Pauschal ist das neue individuell – wie NRW die Eingliederungshilfe umbaut Was sich mit den neuen Plänen in der Praxis für Einrichtungen und Dienste ändern soll

In Nordrhein-Westfalen wird gerade ein neues Regelwerk für die Eingliederungshilfe durchgewunken – und zwar mit ordentlich Rückenwind von den Landschaftsverbänden. Unter dem Deckmäntelchen der „Komplexitätsreduktion“ geht es in Wahrheit um nichts weniger als einen radikalen Umbau: weg von individueller Bedarfsermittlung, hin zu Einheitslösungen mit Pauschalen, Personalschlüsseln und Digitalzwang. Klingt nach Verwaltungsreform, ist aber vor allem eines: praktisch für die Träger der Eingliederungshilfe, unbequem für alle, die wirklich arbeiten müssen.

Im Februar 2025 haben die Landschaftsverbände LVR und LWL einen ersten Aufschlag gemacht und den Verbänden der Freien Wohlfahrt ihre Überlegungen zur nächsten Umsetzungsstufe des Bundesteilhabegesetzes vorgestellt. Dabei geht es um Änderungen am Landesrahmenvertrag, die auf aktuelle fachliche und finanzielle Entwicklungen reagieren sollen. Im Fokus steht eine Lösung, die nicht nur auf dem Papier personenzentriert ist, sondern sich auch praktikabel umsetzen lässt – und zwar im Schulterschluss mit allen Beteiligten.

Die eingereichten Vorschläge sollen als Diskussionsbasis für die anstehenden Verhandlungen dienen, die Ende März in die nächste Runde gehen. Wer nachlesen will, was genau geplant ist, findet das Schreiben hier.

Was da gerade im Rahmenvertrag fein säuberlich formuliert wird, bedeutet in der Praxis: Fachleistungsstunden sind out, Assistenzpauschalen sind in. Und zwar im ambulanten Bereich gleich doppelt: entweder null Prozent Fachkraft – das nennen sie dann kompensatorische Assistenz – oder hundert Prozent, was qualifizierte Assistenz heißt. Wer denkt sich sowas aus? Die Antwort: vermutlich Leute, die lange keinen Fuß mehr in eine echte Betreuungseinrichtung gesetzt haben. Der Mix aus beiden Varianten orientiert sich übrigens nicht am individuellen Bedarf, sondern an einer hübsch pauschalen 70:30-Verteilung. Spart Zeit, kostet Realität.

Für besondere Wohnformen wird’s noch absurder. Hier sollen landeseinheitliche Bedarfstypen mit festen Tagespauschalen und definierten Personalschlüsseln eingeführt werden. Die Leistungserbringer dürfen dann entscheiden, ob sie überhaupt noch alle Bedarfstypen bedienen wollen – oder können. Wer Pech hat, fällt aus dem Raster, und das System zuckt mit den Schultern. Willkommen im Korridorverfahren – da darf man sich innerhalb einer Toleranzgrenze durchwursteln. Klingt flexibel, ist aber eine Schönfärberei für Standardisierung durch die Hintertür.

Und die Digitalisierung? Wird gleich mitverordnet. Keine Wahl, keine Diskussion. Abgerechnet wird digital, kommuniziert auch, und assistive Technologien gibt’s noch obendrauf. Wer da nicht mitzieht, kann gleich zumachen. Klingt nach Fortschritt, ist aber vor allem eins: Kontrolle. Und zwar eine, die einseitig bei den Trägern der Eingliederungshilfe liegt. Die Einrichtungen dürfen liefern – Daten, Leistungen, Nachweise. Dafür gibt’s dann eine schicke Pauschale und wenig Spielraum.

Die eigentliche Crux liegt aber tiefer. Die Umstellung wird ohne neue Bedarfsfeststellungen durchgezogen. Man geht einfach davon aus, dass das, was bisher genehmigt war, auch morgen noch passt. Als ob Menschen und ihre Lebenslagen statisch wären. Für die Dienste bedeutet das: alle bisherigen Feinjustierungen, Konzepte und differenzierten Leistungen werden jetzt über ein grobes Raster gezogen. Wer Glück hat, passt rein. Wer Pech hat, steht blöd da – und muss trotzdem liefern.

Und was machen die Verbände? Spoiler: Sie machen mit.
Warum auch nicht? Wer keine eigenen Ideen hat und am Status quo hängt, findet das neue Modell herrlich bequem. Keine anstrengenden Diskussionen mehr über individuelle Lösungen, keine nervigen Verhandlungen über innovative Ansätze. Einfach übernehmen, was da kommt, und weitermachen wie bisher – nur mit mehr Technik und weniger Aufwand. Für die Klient*innen ist das allerdings ein echtes Problem. Die Flexibilität schwindet, die Passgenauigkeit auch.

Was also tun? Erstens: laut werden. Wer jetzt nicht interveniert, muss sich später nicht beschweren. Zweitens: sich nicht in die Pauschalenfalle locken lassen. Einrichtungen sollten eigene fachliche Konzepte entwickeln, bevor sie sich in die Rasterlogik pressen lassen. Drittens: Praxiswissen einbringen. Denn wer den Alltag kennt, kann zeigen, wo das neue System scheitert, bevor es richtig losgeht.

Klar ist: Diese Umstellung kommt nicht, um die Versorgung besser zu machen. Sie kommt, um das System einfacher zu machen – für die, die es verwalten. Wer das nicht glaubt, sollte sich die Unterlagen nochmal in Ruhe durchlesen. Aber bitte nicht mit leerem Magen.

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