
In der stationären Erziehungshilfe hat sich über viele Jahre hinweg ein klarer fachlicher Standard etabliert: Die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in Einzelzimmern ist heute nicht nur aus pädagogischer Sicht geboten, sondern auch als faktischer Regelfall anzusehen. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Schleswig-Holstein vom 21. Oktober 2024 (Az. 3 LA 20/21) bringt diesen Standard nun auch auf eine rechtlich verbindliche Ebene und stärkt damit die Position jener Träger*innen, die ihre Angebote bereits entsprechend qualitätsorientiert aufgestellt haben. Der Beschluss ist zugleich ein deutlicher Fingerzeig für Einrichtungen, die bislang an veralteten Belegungskonzepten mit Doppelzimmern festgehalten haben.
Im Mittelpunkt der Entscheidung steht die Feststellung, dass eine Betriebserlaubnis nach § 45 SGB VIII nur dann erteilt werden darf, wenn die räumlichen Voraussetzungen geeignet sind, das Kindeswohl effektiv zu schützen. Ausdrücklich geht das Gericht dabei auf die Mindestanforderungen an die Raumgrößen ein und betont, dass eine Mehrfachbelegung nur dann zulässig ist, wenn die Zimmerflächen diesen Anforderungen entsprechen. Die als fachlich etabliert geltenden Richtwerte – mindestens 8 m² für Einzelzimmer und mindestens 16 m² für Zweibettzimmer – dienen dabei nicht mehr nur der Orientierung, sondern haben faktisch rechtsverbindlichen Charakter. Ist ein Zimmer kleiner als 16 m², darf es schlicht nicht mit zwei Personen belegt werden. Diese Vorgabe ist eindeutig und lässt keinen Auslegungsspielraum zu.
Wirklich neu ist diese Erkenntnis jedoch nicht. In der Fachpraxis der stationären Erziehungshilfe hat sich schon seit langem eine eindeutige Haltung durchgesetzt: Einzelzimmer sind nicht nur vorzuziehen, sondern in der Regel zwingend erforderlich. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter (BAGLJÄ) hat sich wiederholt klar positioniert und empfohlen, grundsätzlich auf Einzelzimmerbelegung zu setzen – und zwar nicht nur aus juristischen Erwägungen, sondern vor allem aus pädagogischer Überzeugung. Der Rückzug ins Private, die Gestaltung eines eigenen Raums, das Gefühl von Sicherheit und die Möglichkeit zur Individualisierung des Wohnumfeldes sind zentrale Voraussetzungen für das psychische Wohlbefinden und die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Dies gilt insbesondere ab dem Schulalter – also etwa ab dem sechsten Lebensjahr – und umso mehr bei älteren Jugendlichen mit belasteten Biografien, die besonders auf Schutz und Rückzugsräume angewiesen sind.
Die Entscheidung des OVG ist damit in erster Linie eine juristische Klarstellung einer längst etablierten fachlichen Praxis. Wer heute noch stationäre Angebote mit Mehrbettzimmern konzipiert – insbesondere mit Zimmergrößen unterhalb des Mindeststandards –, ignoriert nicht nur die fachlichen Standards, sondern riskiert auch eine Ablehnung oder den Entzug der Betriebserlaubnis. Einrichtungen, die bislang auf eine wirtschaftlich motivierte Mehrfachbelegung gesetzt haben, stehen nun vor der Aufgabe, ihre Konzepte zu überarbeiten. Die Reduzierung von Platzkapazitäten, bauliche Umgestaltungen oder eine Umwidmung bestehender Räume zu Einzelzimmern sind mögliche, aber zum Teil kostenintensive Konsequenzen. Dennoch führt an dieser Entwicklung kein Weg vorbei, wenn eine Einrichtung dauerhaft und rechtssicher betrieben werden soll.
Für Gründer*innen ist dies ein besonders relevanter Punkt bei der Konzeptentwicklung. Einzelzimmer müssen von Beginn an als konzeptioneller und baulicher Standard vorgesehen werden. Es reicht nicht aus, sich an der Grenze des rechtlich Machbaren zu orientieren. Wer tragfähige, zukunftssichere und fachlich hochwertige Angebote plant, sollte die Einzelbelegung nicht nur akzeptieren, sondern aktiv als Qualitätsmerkmal in den Vordergrund stellen. In der Abstimmung mit den Landesjugendämtern, bei der Entwicklung von Raumkonzepten und im Rahmen der Betriebserlaubnisverfahren sollte deutlich werden, dass die Einrichtung sich an den aktuellen fachlichen und rechtlichen Anforderungen orientiert. Auch aus Verhandlungsperspektive gegenüber öffentlichen Kostenträgern bietet dies eine solide Grundlage, da qualitativ hochwertige Unterbringung die Voraussetzung für gelingende Hilfeprozesse ist und sich letztlich auch auf den Hilfeverlauf, die Fallverweildauer und den pädagogischen Erfolg auswirkt.
Ein weiterer kritischer Punkt betrifft die in der Entscheidung des Gerichts sowie in Teilen der Fachliteratur immer noch genannte Untergrenze von acht Quadratmetern für Einzelzimmer. Diese Zahl mag historisch gewachsen oder als vermeintliches Minimum etabliert sein, sie ist aus heutiger Sicht jedoch weder fachlich vertretbar noch menschenwürdig. Es ist geradezu paradox, dass in einem sensiblen Bereich wie der stationären Kinder- und Jugendhilfe, in dem Schutz, Entwicklung und Würde von jungen Menschen im Mittelpunkt stehen sollen, eine solche Flächenuntergrenze ernsthaft diskutiert wird. Im Vergleich dazu gelten in der Eingliederungshilfe, die sich ebenfalls an besonders schutzbedürftige Menschen richtet, längst andere Maßstäbe: Dort sind durch die Wohn- und Teilhabegesetze der Länder in aller Regel mindestens 14 bis 15 Quadratmeter pro Einzelzimmer vorgesehen – und dies zu Recht. Die Vorstellung, dass ein junger Mensch in einem Raum von acht Quadratmetern über längere Zeit leben, schlafen, lernen und zur Ruhe kommen soll, ist fachlich nicht haltbar. Sie widerspricht allen Überlegungen zu einer kindgerechten Raumgestaltung und lässt sich pädagogisch kaum rechtfertigen. Eine solche Fläche mag auf dem Papier das Minimum darstellen, erfüllt aber nicht den Anspruch an zeitgemäße und entwicklungsfördernde Unterbringung.
Träger*innen, die heute neue Angebote planen, sollten sich an einem realistischen und qualitativ vertretbaren Mindestmaß von 14 bis 15 Quadratmetern orientieren – alles andere ist nicht zukunftsfähig. Wer stationäre Hilfen zur Erziehung anbietet, muss Wohnqualität schaffen, keine Übergangs- oder Kompromisslösungen. Nur so lassen sich individuelle Entwicklung, Rückzugsmöglichkeiten und Würde glaubhaft miteinander verbinden. Die Zeit der Minimalkompromisse ist vorbei – was für Erwachsene in der Eingliederungshilfe Standard ist, darf jungen Menschen in der Jugendhilfe nicht länger vorenthalten werden.
Bildquellen
- Maßband: Canva Fotos