Die politische Lage rund um das Kinder- und Jugendhilfeinklusionsgesetz (IKJHG) ist derzeit so unsicher wie lange nicht mehr. Nach dem Zerbrechen der Regierungskoalition in Deutschland scheint das Thema auf Bundesebene kaum noch Aufmerksamkeit zu erhalten. Obwohl bereits ein umfangreicher Referentenentwurf für das IKJHG vorliegt, steht aktuell nicht fest, ob und wann er im Bundeskabinett besprochen wird. Die wichtige Debatte zur Inklusion und Stärkung der Rechte von Kindern und Jugendlichen in der Jugendhilfe droht dadurch ins Abseits zu geraten.
Trotz der fehlenden Dringlichkeit auf der politischen Agenda setzen sich prominente Akteur*innen und Organisationen weiterhin mit Nachdruck für das IKJHG ein. Zu ihnen gehören bekannte Expert*innen wie Prof. Dr. Sabine Andresen, die Präsidentin des Kinderschutzbundes, Prof. Dr. Karin Böllert, Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ), und Prof. Dr. Wolfgang Schröer, der Vorsitzende des Bundesjugendkuratoriums. Sie alle haben in einem offenen Brief an den Bundeskanzler die Bedeutung des IKJHG betont und eine zügige Umsetzung angemahnt. In dem Brief wird auch auf das parallele Vorhaben, das UBSKM-Gesetz zur Verbesserung der Schutzstrukturen gegen sexualisierte Gewalt an Kindern, hingewiesen. Beide Vorhaben sind, wie die Unterzeichner*innen betonen, weitgehend unumstritten und werden fraktionsübergreifend unterstützt. Doch ohne politische Führung bleibt die Gefahr bestehen, dass auch Konsensthemen wie das IKJHG aus Zeit- und Ressourcenmangel auf unbestimmte Zeit verschoben werden.
Der offene Brief weist auch auf die erhebliche Beteiligung aus der Fachwelt hin, die bisher in die Entwicklung des Referentenentwurfs für das IKJHG eingeflossen ist. Ein breiter Beteiligungsprozess mit Vertreter*innen von Fachverbänden, Praxisorganisationen und Betroffenenverbänden sollte sicherstellen, dass das IKJHG den vielfältigen Anforderungen an eine inklusionsorientierte Jugendhilfe gerecht wird. Die Ignoranz, die dem Vorhaben nun droht, könnte das Vertrauen der Beteiligten und der betroffenen Bevölkerungsgruppen nachhaltig schädigen. Vor allem wird befürchtet, dass das Thema Inklusion bei den Fraktionen nun erst einmal in den Hintergrund tritt. Für die Akteur*innen im Bereich Kinder- und Jugendhilfe steht außer Frage, dass das IKJHG ein wichtiges Gesetz ist, um die strukturellen Voraussetzungen für die Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung im Hilfesystem zu schaffen. Die Verzögerung droht aber genau das zu untergraben.
Es geht beim IKJHG nicht nur um ein Gesetz, sondern um das Signal, das es sendet: die Wertschätzung für inklusive Strukturen und den Willen, sich für die Rechte und die Chancengleichheit aller Kinder und Jugendlichen einzusetzen. Vertreter*innen der Fachwelt befürchten, dass das bisherige Engagement zu verpuffen droht, wenn das IKJHG in den politischen Mühlen zerrieben wird. Dies könnte nicht nur bei den Verbänden, sondern auch bei den betroffenen Familien für erhebliche Frustration sorgen und die Politikverdrossenheit stärken. Ein weiteres Risiko besteht darin, dass Akteur*innen, die sich gegen Inklusion und für eine Reduzierung des Fördersystems aussprechen, durch die entstandene Unzufriedenheit zusätzlichen Rückhalt gewinnen könnten.
Das Thema Inklusion ist für die Kinder- und Jugendhilfe kein Nischenthema mehr. Gerade jetzt, nach den Erfahrungen der Pandemie, ist klar geworden, wie groß der Bedarf an Unterstützung, Anerkennung und strukturellen Anpassungen für Kinder und Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen ist. Die Verzögerung eines zentralen Reformgesetzes wie des IKJHG sendet das gegenteilige Signal und verstärkt die Barrieren für eine gleichberechtigte Teilhabe dieser Kinder und Jugendlichen. Die offenen Briefe und Stellungnahmen sind somit auch ein Appell an die verbleibenden Entscheidungsträger*innen, Verantwortung zu übernehmen und die Weichen für eine inklusive Gesellschaft in der Kinder- und Jugendhilfe zu stellen.
Eine klare politische Zusage für das IKJHG wäre ein wichtiges Zeichen – nicht nur für die Professionellen, die täglich mit den Herausforderungen der Inklusion arbeiten, sondern auch für die Kinder und Familien, die von den Unterstützungsangeboten abhängen. In den Einrichtungen und Diensten der Kinder- und Jugendhilfe wächst der Unmut über die Hängepartie, denn die Umsetzung dieser Reformen ist schon lange überfällig. Viele Fachkräfte sehen sich gezwungen, unter Bedingungen zu arbeiten, die den Anforderungen inklusiver Jugendhilfe nicht gerecht werden. Sie fordern daher zu Recht eine verbindliche Entscheidung, die Planungssicherheit und konkrete Verbesserungen mit sich bringt.
Nun bleibt abzuwarten, wie lange die Politik die Wünsche und Forderungen der Fachwelt noch ignoriert. Der Druck aus den Reihen der Kinder- und Jugendhilfe nimmt zu – und die Frage ist, wie lange die Bundesregierung sich noch der Verantwortung entziehen kann, die gesetzlichen Grundlagen für eine echte Inklusion in der Jugendhilfe zu schaffen. Es steht viel auf dem Spiel: Nicht nur das Vertrauen der Fachkräfte und der betroffenen Familien, sondern auch die Weichenstellung für eine zukunftsfähige, inklusive Kinder- und Jugendhilfe.
Den gesamten offenen Brief können Sie hier einsehen: https://t1p.de/ru7lq
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